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Jahresrückblick 2024: Organisierte Vernachlässigung

Neu Tramm und das politische Versagen der Kreisverwaltung

Ein neues Jahr beginnt und allzu schnell gerät oft das letzte Jahr in Vergessenheit. Dem wollen wir entgegensteuern, denn wir müssen aufzeigen: Das Jahr 2024 steht für eine dramatische Verschlechterung der Bedingungen für Geflüchtete im Landkreis. Das können wir nicht einfach hinnehmen. Wir machen die schleichende Vernachlässigung sichtbar. Gerade, weil in 2025 weitere Verschlechterungen drohen, dürfen wir diese Entwicklungen nicht vergessen.

Wohnungen – Sammelunterkünfte – Neu Tramm

Jahrelang war es im Landkreis Lüchow-Dannenberg möglich, dass Geflüchtete dezentral untergebracht wurden. Nicht in den besten Wohnungen, aber dezentral. Der Landkreis versuchte es immer wieder mit Tricks, wie einer Aufnahmestopp-Ankündigung, weil es keinen Wohnraum gäbe, oder mit Versuchen, weniger Geflüchtete als ihm zugewiesen wurden aufnehmen zu müssen.

Doch irgendwann im Jahr 2023 konnten wir feststellen, dass der Landkreis begann, immer mehr dezentrale Sammel-Unterkünfte einzurichten (in Dannenberg, aber auch in Lüchow: Zwangs-WGs, in denen einander vorher vollkommen unbekannte Menschen sich nun in quasi häuslichem Setting eine Wohnung teilten). Dies widersprach zwar mehreren grundsätzlichen Bekenntnissen des Kreistages, eigentlich für dezentrale Unterbringung zu sein, doch die Wohnungen – und später (in Dannenberg oder Restorf) ganze Häuser – wurden von vielen Menschen noch nicht als „Sammelunterkünfte“ betrachtet – standen sie doch oft am Rande der Orte und interessierten kaum eine Person.

Formal argumentierte die Kreisverwaltung damit, dass es ja ein Wohnungs-Verfügbarkeits-Problem geben würde, welches auch unabhängig von der Mieter*innengruppe ganz grundsätzlich im Landkreis bestehe. Da seien derartige „Lösungen“ eben nötig. Gleichzeitig wurden Menschen mit formalen Briefen gegängelt, die in Wohnungen untergebracht waren, dass sie binnen 6 Monaten nach Anerkennung eines Aufenthaltsrechts, die Wohnung zu verlassen hätten. Niemals, so der Landkreis, würde man die Leute wirklich entmieten, aber man müsse diese Mitteilung formal eben machen. Die Mieter*innen erschreckte dies dennoch fundamental. Und der größte Elefant im Raum wurde auf diese Weise weiterhin komplett ausgeblendet: Dass mangelnder Sozialer Wohnungsbau auch ein Effekt einer verfehlten Politik des Landkreises ist, diese Wohnungen nicht bauen zu wollen.

So griff man schließlich Ende 2023 in die große Zauberkiste der Versprechungen (seit 2022 zum dritten Mal!): Wenn man nur eine zentrale Sammelunterbringung in der ehemaligen Bundespolizei- und Wehrmachtskaserne Neu Tramm einrichten könne, so seien mit einem Male alle diese Sorgen vom Tisch. Nach Begehungen, angeforderten Konzepten, einer eher windigen Ausschreibungsphase, bei der selbstredend der billigste Anbieter mit dem größten Schleuderkonzept den Zuschlag erhielt, und diversen Protestschreiben unsererseits war es beschlossen: Neu Tramm wird ein Lager.

In Rekordzeit von knapp 3 Monaten sollte es losgehen: im Februar 2024 sollte die Unterkunft in Betrieb gehen. Wir hatten gewarnt: Mobilität, Essensversorgung, Internet, geschlechtergerechte Unterbringung, Schutzkonzept, Bildungsangebote, Sport- und Freizeitangebote, Gesundheitsversorgung – für all dies in ausreichendem Maße für angekündigte 150 Geflüchtete eine Unterkunft auszustatten und zu betreiben, ohne dafür überhaupt schon Personal angestellt zu haben, schien utopisch. Die Warnungen bewahrheiteten sich – leider.

O rganisierte Vernachlässigung

Es ist nicht nur der dramatische Wandel weg vom Konzept der dezentralen Unterbringung hin zur neuen Lagerstruktur. Es ging einher mit einem neuen „Konzept“ seitens der Sozialbehörden: Aus Unterstützungsarbeit für oft traumatisierte, immer heimatlose und vielfach mit Herausforderungen im Alltag in einem ihnen fremden Land konfrontierte Menschen wurde – organisierte Vernachlässigung, oder wie es das Sozialamt nennt: „Erziehung zur Eigenständigkeit“. Auch auf der Ebene der Landrätin und ihres 1. Kreisrats schien es eine derartige Umorientierung zu geben: Anstatt sich in der zuständigen Rolle als betreuende Kontrollinstanz zu üben und den Betreiber ASB kritisch-aufmerksam zu begleiten (beispielsweise bei der Implementierung der anfänglich gemachten Versprechen), wurde bei jeder Kritik gemauert und beschönigt (bis hin zur kreativen Wahrheitsverbiegung) und konstant die Seite des Betreibers eingenommen. Die Fürsorgepflicht für die ihnen zugewiesenen Menschen schien nicht von Belang. Ein Kulturwandel, den wir im Spätsommer auch deutlich illustrieren mussten – mit der Verleihung des „Goldenen Pinocchio“ an den 1. Kreisrat bei der Kreistagssitzung.

Doch wie dramatisch die Lage wirklich ist, muss mit Rückblick auf das Jahr erneut verdeutlicht werden:

  • Nur durch eine Sondergenehmigung bis 2027 war es überhaupt zulässig, ohne Bausanierungsmaßnahmen in Neu Tramm eine Unterkunft einzurichten. Die pittoresken Namen der Häuser des künstlichen „Rundlingsdorfs Neu Tramm“ – die an feuchte großdeutsche Träume erinnern („Breslau“, „Königsberg“, „Stettin“, u.a.) – übertünchen den Gesamtzustand der Anlage, aus dem die letzten Bundespolizist*innen schon vor über 25 Jahren ausgerückt sind. Mehrfach scheiterten in den Jahren dazwischen Weiternutzungsideen auch am Zustand der Immobilie.
  • Schon nach knapp zwei Monaten (!!) des Betriebs, Ende April, kamen dann die ersten Beschwerden von Bewohner*innen. Die Bewohner*innen hatten sich selbst kollektiv organisiert und die wesentlichen Forderungen selbst zusammengetragen. Die Betroffenen hatten Beschwerden vorzubringen, die eigentlich nicht zu ignorieren waren: mangelhaftes Essen (gerade für Schwangere und Kleinkinder) und keine Möglichkeiten, sich selbst zu versorgen, mangelhafte Hygienebedingungen und zu wenige Waschmaschinen, eine unterirdische medizinische Versorgung, fehlender Zugang zum Internet (nur im Freien, an einem Haus, geringe Geschwindigkeit) und dergleichen mehr. Die Inhalte der Beschwerde sind bis heute (Januar 2025) weitgehend nicht bearbeitet! Stattdessen wurde der Protest in der Lokalpresse durch die Kreisverwaltung als von außen gesteuert dämonisiert, die Probleme mit Hinweis auf bestehende Infrastruktur wegerklärt und der Beobachtung von außen ein Riegel vorgeschoben: der Zugang wurde stärker beschränkt, inklusive eines Hausverbotes, parallel wurde auch der Zugang für die Presse beschränkt. Auf kritische Berichterstattung (bis hin zur Osnabrücker (!) Zeitung) und auch auf die massive Kritik des Flüchtlingsrates (das Protokoll nach dessen Besuch spricht Bände!) wurde nicht eingegangen – einfach überhaupt nicht.
  • Bis heute hat niemand mit den Betroffenen über den ersten Beschwerdebrief, den sie im April 2024 geschrieben hatten, gesprochen. Trotz Beschwerdestelle funktioniert vor Ort weiter vieles nicht.
  • Auf mehrmalige Nachfragen und Proteste (auch durch uns) wurde bis heute immer gleich reagiert: Es wurden Verbesserungen in einem Teilbereich angekündigt oder als schon vorhanden beiseitegewischt (Internetversorgung, Kochmöglichkeiten, Sprachkurse), ohne die Probleme jedoch ernsthaft zu beseitigen.
    • Anstatt flächendeckender Internetversorgung gibt es eine fast ironisch anmutende „Lösung“: mittlerweile gibt es für die beste Funkempfangsstelle ein Überdach und eine kleine Sitzgelegenheit im Freien.
    • Fast 7 Monate nach Eröffnung der Unterkunft wurden erste Sprachkurse angeboten.
    • Die Kochnischen sind auf vielfachen Druck hin eingerichtet worden, viel zu wenige, ohne Ausstattung, ohne Kühlmöglichkeiten – und den Menschen wird trotz des Versuchs der Eigenversorgung nicht das ihnen zustehende Geld vollständig ausbezahlt (sie könnten ja in der Kantine essen).
    • Den Menschen wird monatliches Kleidergeld abgezogen, obwohl die Kleiderkammer der Einrichtung nur äußerst selten zugänglich ist, ungleichmäßig ausgestattet ist (Männerkleidung ist Mangelware, Kinderbekleidung gibt es im Überfluss) und wenig genutzt wird.
    • Die Gesundheitsversorgung ist dramatisch schlecht, da viele Ärzt*innen mittlerweile die Behandlung ohne anwesende Dolmetscher*innen verweigern. Der Landkreis setzt seine Hoffnungen lieber auf eine kommende digitale Medizin-Vokabular-App, die noch nicht existiert. Daneben ist der ASB nur sehr begrenzt bereit, Menschen zum Arzt zu fahren und stützt genau diese Versorgungssicherung auf die Unterstützung durch Freiwillige.
    • Die Mobilität ist massiv eingeschränkt. Nicht nur fährt am Wochenende kein regelmäßiger ÖPNV nach Neu Tramm bzw. entlang der Lüchow-Dannenberg-Strecke, sondern auch die landkreisweite Umstellung auf WendlandOnDemand stellt Geflüchtete oftmals vor neue Herausforderungen, die Mobilitätsbereitschaft des ASB (nach Anmeldung mehrere Tage im Voraus) ist äußerst beschränkt und sonstige Angebote existieren in Neu Tramm nicht. Auch Kinderbetreuung, Sport u.a. Angebote sind nur marginal vorhanden.
  • Die Warnungen genau vor dieser Situation eines Lagers am Rande eines der randständigen Dörfer im Landkreis, das keine ausreichende Versorgung, sondern eine organisierte Vernachlässigung zum Ausdruck bringen wird, hatten wir ausgesprochen. Sie haben sich voll bewahrheitet.
  • Auch Abschiebungen wurden durch die höhere Zahl an Geflüchteten wieder häufiger durchgeführt – mitten in der Nacht sind die Bewohner*innen von Tramm nun mehrfach aus dem Schlaf gerissen worden. Denn die Polizei darf aufgrund der letzten Verschärfungen im Asylrecht nun auch weitere Zimmer in der Unterkunft durchsuchen, sollte die abzuschiebende Person nicht auffindbar sein. Dies verunsichert die Menschen brutal und direkt: Nachts werden die Stimmen laut, Licht geht an, allen wird klar „die Polizei“ ist da – und jede Öffentlichkeit ist 10km weit weg. Alles, was der Verwaltung so passt: Ohne großes Aufheben eine Abschiebung aus einer zentralen Unterkunft zu organisieren, macht vieles einfacher. Wir wollen alle Mitarbeiter*innen des ASB erinnern: Sie haben keine proaktive Mitwirkungspflicht beim Vollzug der Abschiebemaßnahmen. Fühlen Sie sich nicht in die Rolle gedrängt, die Polizei und die Ausländerbehörde bei der Durchführung nachts zu unterstützen. Ihre Aufgabe ist die Fürsorge für ALLE Bewohner*innen des Lagers! Nicht alle Abschiebungen haben wir mitbekommen. Wo sie offenkundig waren, gab es Protest, wir haben ihn mehrfach vor das Kreishaus getragen.
  • Und nun hat der Kreistag erneut beschlossen, trotz all der konzeptionellen und praktischen Mängel in der Betreuung, trotz all der unabsehbaren Sanierungsbedarfe und einer fortlaufenden Unterbelegung der Unterkunft (was finanzielle Folgen hat!), trotz all der vorliegenden besseren Konzepte über andere Unterbringungsmöglichkeiten, das Lager in Neu Tramm zu verstetigen und nach Mietende im Mai 2025 das Gelände zu erwerben.
  • Dass der Landkreis substantiell daran arbeitet, gemietete Wohnungen wieder aus dem Portfolio auszusortieren, dass Menschen, die aufgrund klarer Beeinträchtigungen von Neu Tramm nach Steine umziehen wollen, daran gehindert werden, dass Steine keine Frauen*unterkunft werden kann – all das deutet darauf hin, dass wir es in 2025 und darüber hinaus wohl mit einer Verfestigung der Sammellager-Struktur in Neu Tramm zu tun haben werden und dass alles daran gesetzt wird, nicht in Sozialen Wohnungsbau sowie neue und gesellschaftlich diverse Stadtviertelentwicklungen zu investieren und erst recht, dezentrale Unterbringung langfristig zu verunmöglichen.
  • Der (wohl chaotische) Start der Bezahlkarte in 2025 wird dazu noch obendrein das Leben der Geflüchteten vielfach belasten und erschweren. Die Situation wird zunehmend untragbar!

Fazit – Forderungen

Doch gegen diese Entwicklungen in 2024 kann auch jetzt noch gehandelt werden:

  • Der Kreistag kann sich immer noch gegen den Kauf aussprechen und dezentrale Unterbringung ermöglichen. Sozialer Wohnungsbau muss ganz oben auf der Prioritätenliste der Landrätin stehen.
  • Der Landkreis sollte weiterhin alle angemieteten Wohnungen behalten.
  • Der Betreibervertrag mit dem ASB wird nachgeschärft, mit klaren Verantwortlichkeiten bestückt und laufend durch einen Kreisausschuss per Monitoring kontrolliert. Ein proaktives Beschwerdemanagement, das eigenständig zu handeln bereit ist, ist dafür essentiell. Ebenso die Einführung von mitentscheidenden Bewohner*innenräten in allen vom ASB betriebenen Unterkünften. Bei fortlaufender Zuwiderhandlung wird der Vertrag bei einer Neuvergabe im Mai nicht verlängert.
  • Der Landkreis organisiert die Schaffung von Bewohner*innen-Vertretungen, deren Anliegen auch Gehör findet.
  • Für (die kleineren!) Sammelunterkünfte im Landkreis werden endlich die national geltenden Mindeststandards erfüllt, auch für die Schutzkonzepte.
  • Der Landkreis spricht sich, ähnlich wie die Landeshauptstadt Hannover oder weitere Städte, gegen die Einführung der Bezahlkarte aus, öffnet das Bargeldauszahlungslimit auf die gesamte Summe (siehe Hannover) und erklärt lautstark, dass die Karte ein Rohrkrepierer ist.
  • Der Landkreis setzt seine Bereitschaft zur Aufnahme von Geflüchteten verstärkt fort und ermöglicht ihnen, hier sicher anzukommen und zu leben. Eine proaktive Beteiligung an Abschiebungen wird schon mit Verweis auf demographische Argumente im Landkreis abgelehnt.

Der Blick zurück auf 2024 macht eines deutlicher als in den Jahren zuvor: Menschenrechte gelten für alle Menschen. Jede*r Mensch, der nach Lüchow-Dannenberg kommt, ist ein*e Bewohner*in des Landkreises. Lasst uns auch in 2025 für die Rechte aller Menschen hier bei uns eintreten. Dazu gehört ein Ende von Neu Tramm und eine menschenwürdige Migrationspolitik – gerade in einem entscheidenden Wahljahr seien wir alle daran erinnert: Es beginnt klein, bei uns, im alltäglich solidarischen Miteinander.

Wider die soziale Kälte und wider den unmenschlichen Umgang mit Geflüchteten!

Beachtet unsere folgenden Ankündigungen zur Kampagne gegen die Bezahlkarte.

Auf ein besseres Jahr 2025

Solidarische Provinz